Neu aufgefundene Orgelwerke Johann Sebastian Bachs
J. S. Bach: Ciacona in d-Moll BWV 1178 & Ciacona in g-Moll BWV 1179
Als der 18-jährige Johann Sebastian Bach 1703 im thüringischen Arnstadt seine erste Stelle als Organist antritt, beginnt eine produktive Zeit. Hier erlangt er mit seinem Komponieren ein professionelles Niveau; sein Sohn Carl Philipp Emanuel spricht später von den »ersten Früchten seines Fleißes«. In seinem Arnstädter Schaffen greift Bach die Anregungen aus der Lehrzeit bei seinem ältesten Bruder in Ohrdruf (1695‒1700) und seiner Ausbildung bei Georg Böhm in Lüneburg (1700‒1702) auf und beginnt mit der Vereinigung von mittel- und norddeutschen Traditionen zu experimentieren.
Die beiden jetzt als Frühwerke Bachs identifizierten Kompositionen, die Ciacona in d-Moll BWV 1127 und die Ciacona in g-Moll BWV 1128, kennt der Leipziger Bach-Forscher Peter Wollny bereits seit über 30 Jahren. Gefunden hat er sie in der Königlichen Bibliothek Belgiens. Von Anfang an faszinierten ihn die Handschriften und er versucht, ihre Geheimnisse aufzudecken. Im Lauf seiner Forscherkarriere sammelt der Musikwissenschaftler zahlreiche Hinweise, die sich nun mit dem letzten Puzzlestück, der namentlichen Identifizierung des Schreibers, zu einem vollständigen Bild fügen. Anhand von Kopien und im Zuge mehrerer Besuche in Brüssel hat er die beiden Handschriften immer wieder studiert ‒ und jede einzelne Note mehrfach begutachtet.
Es ist harte Arbeit, ein Stück Bach zuzuschreiben: Beide Manuskripte sind nicht von Johann Sebastian Bachs Hand, dazu undatiert und nicht signiert. Doch den zunächst namenlosen Schreiber kann Peter Wollny auch in anderen Quellen aus Bachs Umfeld nachweisen – zum Beispiel in einem anderen Frühwerk Bachs, einer Fuge über ein Thema von Albinoni. Hinzu kamen weitere Stücke aus dem mitteldeutschen Raum.
Die Suche nach der Identität des Schreibers wird zu einer jahrzehntelangen Detektivgeschichte: Wollny, inzwischen Direktor des Bach-Archivs Leipzig, ist seit 2023 unter anderem mit der Projektleitung des »Forschungsportal BACH« betraut. Das Langzeitprojekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig erschließt in einem Zeitraum von 25 Jahren mit neuesten Methoden der Digital Humanities erstmals digital sämtliche verfügbare archivalische Quellen zur gesamten Musikerfamilie Bach und macht diese öffentlich zugänglich.
Wollnys Mitarbeiter Dr. Bernd Koska findet bei Recherchen im Rahmen des Projekts in einem thüringischen Kirchenarchiv ein Bewerbungsschreiben aus dem Jahr 1729. Ein der Bach-Forschung bislang völlig unbekannter Organist namens Salomon Günther John behauptet darin, in Arnstadt Bachs Schüler gewesen zu sein. Johns Lebensgeschichte lässt sich daraufhin gut rekonstruieren: Von 1705 an bis 1707 nimmt er Unterricht in Arnstadt bei Bach und auch in späteren Jahren taucht er in Weimar noch einmal in Bachs Umfeld auf. Wollny sucht nach Dokumenten und findet schließlich frühe Schriftzeugnisse von John, anhand derer er eindeutig als der gesuchte Kopist bestimmt werden kann.
Die Abschriften sind um 1705 entstanden. Stilistisch enthalten die Werke Merkmale, die man zu dieser Zeit in Bachs Werken findet, sonst aber bei keinem anderen Komponisten, beispielweise die Verbindung von Variation und Ostinato mit einer ausgedehnten Fuge. Zudem finden sich Techniken, die stark an den Lüneburger Organisten Georg Böhm erinnern, Bachs Lehrer. Johann Sebastian Bachs frühe Kompositionen sind bis in die Weimarer Zeit von solchen Anklängen an Böhm durchzogen. Zudem gibt es musikalische Anklänge an die Chaconne aus Bachs Kantate BWV 150.
Mit der Zuschreibung der beiden Orgelkompositionen ist das Bachwerke-Verzeichnis um zwei Nummern reicher. Der Fund reiht sich ein in die stattliche Zahl größerer und kleinerer Entdeckungen, die Mitarbeitern des Bach-Archivs im Zuge der an dieser Institution seit nunmehr 75 Jahren durchgeführten Grundlagenforschung geglückt sind.
Direktor des Bach-Archivs
»Lange habe ich nach dem fehlenden Puzzlestück für die Zuordnung der Kompositionen gesucht – jetzt offenbart sich das ganze Bild. Wir können definitiv sagen, dass die Abschriften um 1705 von dem Bach-Schüler Salomon Günther John angefertigt worden sind. Stilistisch erhalten die Werke darüber hinaus Merkmale, die man zu dieser Zeit in Bachs Werken findet, sonst aber bei keinem anderen Komponisten. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Königlichen Bibliothek Belgiens und des Bach-Archivs Leipzig für ihre jahrzehntelange Unterstützung meiner Forschung. Besonderer Dank gilt den Förderern unserer Stiftung: dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Freistaat Sachsen und der Stadt Leipzig für ihr stetiges Vertrauen und die finanzielle Sicherung unserer Arbeit.«
Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
»Johann Sebastian Bach ist heute ein absoluter Weltstar. Seine Musik überbrückt Epochen, verbindet Generationen und bleibt Maßstab wie Kompass. Dieses Erbe zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln – wissenschaftlich, künstlerisch und bildungspolitisch – ist unsere Verantwortung. Das Bach-Archiv Leipzig leistet dabei Herausragendes: Als führende Forschungsinstitution präsentiert es der Welt heute zwei neuentdeckte Werke Bachs. Das ist mehr als eine wissenschaftliche Sensation – es zeigt, wie dynamisch und zukunftsgewandt die Pflege unseres kulturellen Erbes sein kann, wenn Exzellenz und Leidenschaft zusammenkommen.«
Sächsische Staatsministerin für Kultur und Tourismus
»Mit den neu aufgefundenen Orgelstücken von Johann Sebastian Bach kann eine Entdeckung im Freistaat Sachsen präsentiert werden, die um die Welt gehen wird. Diese musikalische Sensation wird die Menschen aus aller Welt dazu einladen, in unser schönes Bundesland zu reisen, um sich eingehender mit der Musik, aber eben auch der Person Johann Sebastian Bachs vertraut zu machen. Meine Glückwünsche gelten den Verantwortlichen des Bach-Archivs, denen die Zuordnung von Werk und Komponist geglückt ist.«
Oberbürgermeister der Stadt Leipzig
»Leipzig ist Bach-Stadt, weil hier nicht nur musiziert, sondern geforscht und entdeckt wird. Das Bach-Archiv Leipzig steht dabei an vorderster Stelle. Mit seinen herausragenden wissenschaftlichen Leistungen, zuletzt dem Fund dieser bislang unbekannten Werke durch Peter Wollny, zeigt das Haus eindrucksvoll, wie lebendig und ergiebig die Auseinandersetzung mit unserem musikalischen Erbe ist. Diese Forschung stärkt Leipzigs internationale Strahlkraft und vertieft unser Verständnis eines Komponisten, der die Musikgeschichte geprägt hat wie kaum ein anderer. Mein Dank gilt dem Forschungsteam des Bach-Archivs Leipzig, das mit Leidenschaft und Präzision immer neue Zugänge zu Bach eröffnet, und insbesondere dessen Direktor Peter Wollny. Leipzig ist und bleibt durch die Arbeit des Bach-Archivs der zentrale Ort der Bach-Welt.«
KBR – Königliche Bibliothek Belgiens, Leiterin der Musikabteilung (BE)
»Die Königliche Bibliothek in Brüssel bewahrt mit der Musiksammlung von François-Joseph Fétis (1784–1871) einen riesigen Schatz an wertvollen Handschriften und Drucken des 15. bis 19. Jahrhunderts, der für die internationale musikwissenschaftliche Forschung von besonderer Bedeutung ist. Unser Haus zählt zu den führenden Bibliotheken in Europa und wir freuen uns, dass unser Bestand an erstrangigen Bach-Quellen nun um zwei Stücke reicher ist.«
Präsident des Bach-Archiv Leipzig, Organist, Dirigent und Wissenschaftler (NL)
»Wenn man an den jungen Bach oder auch Mozart denkt, wird oft gemutmaßt, die Genialität käme später – dem ist aber nicht so! Diese beiden Werke haben eine sehr hohe Qualität, die kaum erwartbar ist für so einen jungen Menschen. Ich bin überzeugt davon, dass Organisten weltweit sehr dankbar sein werden für dieses virtuose, spritzige neue Repertoire und dieses künftig regelmäßig aufführen werden.«
Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
»Wir freuen uns außerordentlich über die ergiebige und langjährige Zusammenarbeit mit dem Bach-Archiv Leipzig. Unser Forschungsportal BACH ist hierfür ein eindrucksvolles Beispiel. Wenn die geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung, die hier geleistet wird, zu solchen spektakulären Ergebnissen führt, wird einmal mehr deutlich, wie elementar wichtig die Bund-Länder-finanzierte Forschung im Akademienprogramm ist.«
Leiter des Leipziger Musikverlags Breitkopf & Härtel
»Die Entdeckung dieser Werke Johann Sebastian Bachs ist eine musikwissenschaftliche Sensation. Der Verlag Breitkopf & Härtel, der schon zu Bachs Lebzeiten dessen Textdrucke hergestellt hat, ist stolz, mit diesen Stücken seine lange Tradition als Bach-Verlag fortsetzen zu können.«